Überraschter Ausruf eines Klienten während seiner ICH-Begegnung
Unsere frühkindlichen Bindungserfahrungen bilden unsere psychische und körperliche Grundlage, wie wir selber der Welt begegnen, und die Wahrnehmung und Erwartungen, wie die Welt uns begegnet.
Die Beziehung zu unseren nahen Bindungspartnern, besonders der Mutter, beeinflussen uns zutiefst und prägen die Qualitäten all unserer späteren Beziehungen sowie unsere Partnerwahl.
Eine Bindungsbeziehung zu einer primären Bindungsfigur, der Mutter, ist für unser körperliches und emotionales Überleben als Kind und für unsere Entwicklung unverzichtbar.
Aufgrund dieser allumfassenden Abhängigkeit sind wir als Kind gezwungen, uns an die Mutter anzupassen und radikal alle realen Wahrnehmungen auszuschließen, die eine Bindungsbeziehung gefährden könnte! Wir dürfen die erlebte emotionale Realität unserer Kindheit nicht wahrnehmen und sind gezwungen, die fühlbare Beziehungsqualität und unseren emotionalen Zustand zu verdrängen und abzuspalten.
Als Baby kommen wir mit einem unreifen Nervensystem auf die Welt und besitzen noch nicht die Möglichkeit uns selbst zu regulieren. Wir sind davon abhängig, dass unsere Mutter unsere Emotionen versteht und mit ihrer innerlichen Ruhe und durch wohlwollenden Körperkontakt uns beruhigt und reguliert. Die Art und Weise, wie die Mutter auf uns eingeht, auf uns schaut und unsere Gefühle und Signale wahrnimmt und spiegelt, bildet die Grundlage dafür, ob wir uns liebenswert erleben und unsere fundamentalen Bedürfnisse in Ordnung sind. So prägt diese frühe Bindungsbeziehung nicht nur unsere Selbstwahrnehmung und Selbstbild, sondern auch die Beziehung zu anderen Menschen und unserer Umwelt allgemein.
Haben wir eine Bindungsbeziehung zu unserer Mutter/Vater erlebt, die von Liebe, Zuneigung, Wohlwollen und Respekt getragen war, dann fühlen wir uns liebenswert, andere Menschen als wohlwollend und die Welt als einen guten Ort.
Intime Bindungen an andere menschliche Wesen sind der Dreh- und Angelpunkt, um den es im Leben eines Menschen geht. Aber nicht nur im Säuglings- und Kleinkindalter brauchen wir erfüllte Bindungsbeziehungen, sondern auch während des Erwachsenendaseins bis ins hohe Alter hinein. Das ist der biologische Trieb aller Säugetiere.
Durch hinreichende Einfühlung und Einstimmung auf das Innenleben des Kindes in den ersten 12 Monaten baut ein Kind in seinem Inneren liebevolle Eltern auf, die es dann auch unterstützen und ihm Sicherheit geben, auch wenn sie physisch nicht mehr da sind!
Die in unserer Kindheit entstandenen Muster spiegeln nicht nur die Art und Weise, wie wir zu anderen Menschen in Beziehung treten, sondern auch, wie wir zu uns selber in Kontakt gehen, d.h., wie wir mit unseren eigenen Empfindungen und Denkgewohnheiten umgehen. Die inneren Beziehungsmodelle sind zwar stabile Muster, aber keine starren unveränderlichen Strukturen. Neue Beziehungserfahrungen sorgen für Neuverschaltungen in unserem Nervensystem und bringen uns so in die Lage, unser Leben und unsere Beziehungen im Hier und Jetzt zu verändern.
Nicht nur in unserer Kindheit, sondern während unseres gesamten Lebens bilden unsere Bindungsbeziehungen eine zentrale Rolle für unsere geistige, emotionale und körperliche Entwicklung!
Bindung ist ein ständig präsentes menschliches Bedürfnis und ist keine kindliche Abhängigkeit, die wir überwinden müssen, sondern jetzt als Erwachsener in uns selber befriedigen.
Aufgrund unserer Neuroplastizität (Veränderbarkeit unseres Gehirns) haben wir zwar frühkindlich festgelegte innere Bindungsmuster, die wir unser ganzes Leben lang durch neue Beziehungs- und Bindungserfahrungen verändern können. Wir sind jedoch jederzeit auch neurobiologisch in der Lage, auch noch als Erwachsene, ein „erworbenes sicheres Bindungsmuster“ zu entwickeln. Obwohl unsere Bindungsqualität am stärksten durch unsere ersten Erfahrungen mit unsere Mutter/Vater geprägt ist, bleiben wir doch im Verlauf unseres gesamten Lebens formbar!!
Waren unsere Bindungserfahrungen als Kind problematisch, traumatisch, ablehnend, gewalttätig, missbräuchlich und/oder vernachlässigend, so kann die Therapie uns eine zweite Chance bieten. Wir können im Hier und Jetzt lernen, uns selber liebevoll anzunehmen. Im wohlwollenden und nahen Kontakt mit unseren gesunden Ich- und Selbstanteilen können wir neue heilende Beziehungserfahrungen erleben. Auf diese Art und Weise wird es dann gelingen, unsere ursprünglich basalen Bedürfnisse selbst zu befriedigen.
Als Kinder waren wir auf Gedeih und Verderb abhängig von der Bindungsqualität, die uns von unserer Mutter/Eltern angeboten wurde. Wir mussten uns der Beziehungssituation anpassen, um zu überleben. In unserem Inneren halten wir diese ungesunden Bindungsstrategien noch aufrecht, da viele in der damaligen Zeit eingefrorenen kindlichen Anteile diese Bindung um jeden Preis aufrechterhalten müssen. Für sie gibt es kein gegenwärtiges Hier und Jetzt mit einer sicheren Umgebung. Sie leben und fühlen noch in der alten Bindungsbeziehung, selbst dann noch, wenn die Eltern z.B. schon längst gestorben sind.
Wenn wir uns in uns und mit uns selber sicher, geliebt und gehalten fühlen, wird die Welt zu einem sicheren Ort und die Menschen wohltuend. So wie die erste Bindungsbeziehung es dem Kind ermöglicht, sich zu entwickeln, erschließen die neuen Bindungserfahrungen zum Ich und zu gesunden inneren Selbstanteilen uns nun die Möglichkeit, uns zu verändern. Wir holen in den Aufstellungen sozusagen die frühkindlichen Bindungsprozesse im gesicherten Hier und Jetzt mit unseren Ich-nahen Selbstanteilen nach!
Hier geschieht Transformation, Entwicklung und Wachstum unseres Selbst durch mitfühlende Rückbindung zu unseren früh aufgegebenen Ich-und Selbstanteilen. Auch in der Identitätstherapie arbeite ich mit den universellen Bindungsgesetzen, die für alle Menschen gültig sind.
Dieser mitfühlende Rückbindungs- oder Selbstanbindungskontakt zu uns selber baut in der inneren Psyche nach und nach ein stabiles ICH-bewusstes Fundament auf. Durch die liebevolle Interaktion mit dem Ich können wir nun als Erwachsene erleben, dass wir erkannt, verstanden und gefühlt werden. „Wir fühlen uns von unseren inneren Anteilen gefühlt“ und in unserem ganz individuellen Dasein bestätigt. Wir geben uns im Hier und Jetzt als Erwachsener genau das, was wir als Kind für eine gesunde Entwicklung benötigt hätten - wir sind Geber und Empfänger in einer Person!
Durch die achtsame und mitfühlende Selbstanbindung werden wir innerlich und damit auch äußerlich immer stabiler. Wir bekommen mehr und mehr gesunden Kontakt zu unserem individuellen und unverletzlichen Wesenskern. Das gibt uns die Möglichkeit, unser wahres Wesen in der Welt und der Gemeinschaft auszudrücken und zur Entfaltung zu bringen.