Transgenerationale Weitergabe von Traumagefühlen
In der psychotraumatologischen Sichtweise kann es geschehen, dass nicht nur individuell erlebte Traumata das psychische Erleben und Verhalten eines Menschen beeinflussen, sondern auch nicht verarbeitete traumatische Erfahrungen früherer Generationen – etwa der Eltern, Großeltern oder sogar Urgroßeltern – auf unbewusste Weise weiterwirken.
Ein wesentlicher Übertragungsweg ist dabei die emotionale Bindung, insbesondere zur primären Bezugsperson – meist der Mutter. Über diese frühe Bindung entsteht nicht nur ein tiefgreifender Kontakt zu ihrer aktuellen emotionalen Befindlichkeit, sondern auch zu innerpsychischen Anteilen, die durch eigene traumatische Erfahrungen geprägt wurden. So können unverarbeitete Traumagefühle – wie Verlassenheit, existentielle Angst oder Ohnmacht – aus früheren Generationen unbewusst an das Kind weitergegeben werden.
Traumatische Erfahrungen wie der Verlust naher Angehöriger, Flucht und Vertreibung, Kriegserlebnisse, familiäre Gewalt oder sexueller Missbrauch hinterlassen oft tiefe seelische Spuren. Wenn solche Erlebnisse nicht in einem sicheren therapeutischen Rahmen integriert werden können, besteht die Gefahr, dass sie abgespalten bleiben – als unbewusste Anteile, die weiterhin im inneren Erleben aktiv sind. Diese Spaltungen der Psyche stellen ursprünglich eine Überlebensstrategie dar, können aber langfristig zu strukturellen Einschränkungen in der Persönlichkeitsentwicklung führen.
Eine Mutter, die selbst traumatisiert ist, hat häufig nicht den Zugang zu all ihren gesunden Ich-Anteilen. In der Beziehung zu ihrem Kind kann sie ihm daher nicht vollständig in ihrer emotionalen Ganzheit begegnen. Die unbewussten traumabezogenen inneren Zustände, die sie selbst nicht integrieren konnte, werden im Bindungsprozess oft weitergegeben – nicht durch Worte, sondern über den Blickaustausch werden verdrängte und abgespaltene Gefühle unbewusste an das Kind weitergegeben. Das Kind öffnet sich für diese abgespaltenen traumatischen Gefühle, bindet und identifiziert sich mit den nicht integrierten Erlebnissen.
Diese Form der transgenerationalen Weitergabe geschieht nicht willentlich und meist auch nicht bewusst. Sie kann sich über mehrere Generationen fortsetzen – vor allem dann, wenn die ursprünglichen Traumata im Familiensystem nie anerkannt oder verarbeitet wurden. Kinder übernehmen dann unbewusst Gefühle und psychische Zustände, die nicht zu ihrer eigenen Lebensgeschichte gehören. Diese Übernahme kann zu einer tiefen Identifikation mit dem emotionalen Erbe der Familie führen – was das Erleben von Autonomie, Selbstwirksamkeit und Lebensfreude erheblich einschränken kann.
Ein zentrales Ziel in der psychotraumatherapeutischen Arbeit besteht daher darin, diese unbewussten Bindungen und Loyalitäten bewusst zu machen. Erst durch das Verstehen und Würdigen des familiären Traumanetzwerks können sich Menschen innerlich lösen, ihre eigenen Gefühle von übernommenen unterscheiden und Schritt für Schritt ein selbstbestimmtes Leben entwickeln. Traumen wie der frühe Verlust der Mutter, Heimatverlust, Kriegserlebnisse, familiäre Gewalt und Missbrauch hinterlassen tiefe Verletzungen in der Seele des Menschen und führen als Notfallreaktion zu psychischen Spaltungen. Werden diese Traumen nach Beendigung der Traumasituation nicht fachkundig therapeutisch bearbeitet, so kommt es im Menschen zu dauerhaften Spaltungen in der Persönlichkeitsstruktur. Traumatische Ereignisse, die emotional und mental verdrängt und abgespalten werden, wirken trotzdem unbewusst in der Psyche des Menschen weiter und prägen seine weitere Lebensführung.
Die Übernahme von und Identifizierung mit fremden Traumagefühlen kann sich durch den Bindungsprozess über mehrere Generationen fortsetzen. Ohne, dass es uns bewusst ist, werden wir über diesen Weg in die Traumagefühle, die in unseren Familien herrschen, eingebunden. Diese unbewussten Verbindungen hindern uns oft daran, ein eigenes, freies und selbstbestimmtes Leben zu führen.